Mobilität im ländlichen Raum stärken

Bevölkerungsrückgang und demografischer Wandel waren viele Jahre die Hauptfaktoren für sinkende Fahrgastzahlen im ÖPNV in ländlichen Regionen. Nur mit hohem Aufwand und vor allem einem höheren Zuschussbedarf konnten die Verkehrsunternehmen vor Ort häufig nur noch ein Grundangebot an Bus- und Bahnverbindungen aufrechterhalten. Doch seit einigen Jahren lassen sich laut Statistischem Bundesamt in vielen Kreisen und Gemeinden deutschlandweit nicht nur stabile, sondern sogar steigende Einwohnerzahlen feststellen. Gründe dafür sind unter anderem bezahlbarer Wohnraum und eine leicht steigende Geburtenrate. Diese Entwicklung ist eine Chance für den ÖPNV, die Mobilität im ländlichen Raum zu stärken und durch attraktive Angebote wieder Fahrgäste zu gewinnen.

Herausforderung für den ÖPNV auf dem Land

Der ländliche Raum unterscheidet sich in seiner Verkehrsinfrastruktur deutlich von urbanen Gebieten. Während Städte vor allem mit dem Problem überlasteter Verkehrswege zu kämpfen haben, steht der ländliche Raum vor einer Mangelsituation im Mobilitätsangebot. Diese Mangellage betrifft etwa die Hälfte der in Deutschland lebenden Bevölkerung, da jede zweite Person in einer ländlichen Region lebt. Für diese Menschen ist eine zuverlässige und flächendeckende Versorgung mit Mobilitätsdienstleistungen von zentraler Bedeutung, um die Daseinsvorsorge und gleichwertige Lebensverhältnisse sicherzustellen.

Besonders wichtig sind dabei strukturelle Aspekte der Lebens- und Standortqualität wie die Erreichbarkeit von Arbeitsplätzen, Bildungseinrichtungen oder medizinischer Versorgung. Die Mobilitätsanalysen der letzten Jahre zeigen einige zentrale Trends: Der Anteil älterer Menschen im ländlichen Raum ist gestiegen und die Nutzung des Autos dominiert. Auch im Schülerverkehr hat der Individualverkehr (MIV) gegenüber dem öffentlichen Verkehr zugenommen (infras, DLR, IVT und infras 360 (2018): Mobilität in Deutschland).

Langfristiges Ziel: bezahlbare und flexible Mobilität im ländlichen Raum

„Die Mobilitätsbedürfnisse im ländlichen Raum werden oftmals nicht angemessen abgedeckt. Jeder und jede Zweite in Deutschland ist davon betroffen; diese unzureichende Daseinsvorsorge wirkt sich auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und die soziale Teilhabe aus. Wer es sich leisten kann, greift auf das Auto zurück. Das Zweit- und Drittauto ist bei vielen Familien inzwischen selbstverständlich. Wer wirtschaftlich schwächer ist, hat es daher schwerer auf dem Arbeitsmarkt, kann weniger am gesellschaftlichen Leben teilhaben. Dies führt zur Flucht aus dem ländlichen Raum in die verkehrlich überlasteten Ballungsräume.“

Ingo Wortmann · VDV-Präsident

Grundlagen für die Planung der Verkehrswende auf dem Land

Die Konzentration des ÖPNV-Angebots auf den Schülerverkehr führt zu erheblichen Einschränkungen für andere Bevölkerungsgruppen. Fahrpläne orientieren sich oft an den Bedürfnissen von Schulen, wodurch die Flexibilität und Nutzbarkeit des ÖPNV für die Allgemeinbevölkerung eingeschränkt werden. Die bestehenden Angebote werden von den Bewohnerinnen und Bewohnern ländlicher Gebiete als unzureichend wahrgenommen, was wiederum dazu führt, dass attraktive Tarife wie das Deutschland-Ticket wenig Anklang finden. Es ist auch deshalb notwendig, die Mobilitätsbedürfnisse der gesamten ländlichen Bevölkerung stärker in den Fokus der ÖPNV-Planung zu rücken. Auch nicht zu vernachlässigen sind die Touristen und deren Bedürfnisse an die  Mobilität in den ländlichen Räumen. Um eine bessere Mobilität zu gewährleisten, bedarf es einer umfassenden Angebotsinitiative im ÖPNV. Es gilt, Lösungen zu entwickeln, die sowohl den Ausbau des öffentlichen Verkehrsnetzes als auch die Interessen der Verkehrsunternehmen berücksichtigen. Die Politik ist nun gefordert, die Weichen für eine zukunftsfähige Mobilität im ländlichen Raum zu stellen.

Dafür hat der VDV Ideen zu sechs Themenfeldern entwickelt:

1

Stärkung der ÖPNV-Kultur: Die Hälfte der Bevölkerung lebt im ländlichen Raum, deshalb müssen Raumplanung und ÖPNV von Anfang an zusammen gedacht werden, während aktive Kooperationen mit zivilgesellschaftlichen Akteuren die Nutzung des ÖPNV fördern. Gleichzeitig muss die Einbindung von Entscheidungsträgern wie Landrätinnen oder Abgeordneten durch gezielte Aktionen das Bewusstsein für die Bedeutung des ÖPNV stärken.

2

Leistungsangebot: Ein flächendeckender 60-Minuten-Takt kombiniert mit On-Demand-Angeboten ist notwendig. Die Fahrzeit im ÖPNV darf nicht länger als das 1,5-fache einer Autofahrt betragen. Ergänzend dazu sorgt ein integrierter Fahrplan mit Takt- und Anschlusszeiten für bedarfsorientierte Mobilität.

3

Digitalisierung: Der lückenlose Ausbau von schnellem Internet und WLAN muss gewährleistet werden, um digitale Echtzeit-Informationen zu ermöglichen und den ländlichen ÖPNV attraktiver zu gestalten. Darüber hinaus müssen Verwaltungsprozesse digitalisiert werden, um Förderanträge und Planungsabläufe effizienter zu gestalten.

4

Infrastruktur und Flottenmodernisierung: Die Antriebswende erfordert langfristige Fördermittel zur Umstellung der Flotten, während gleichzeitig Bürokratieabbau bei Förderprozessen die Modernisierung beschleunigen muss. Die Anpassung und der Ausbau der Ladeinfrastruktur sind essenziell, um die klimapolitischen Ziele zu erreichen.

5

Finanzierung und Tarife: Eine langfristige und verlässliche Finanzierung des Deutschland-Tickets sowie zusätzliche Mittel für den Ausbau des ländlichen ÖPNV-Angebots sind unabdingbar. Gleichzeitig braucht es eine faire Einnahmeverteilung, die den besonderen Herausforderungen ländlicher Regionen Rechnung tragen.

6

Personal und Bildung: Die Busführerscheinreform muss die Anforderungen des ÖPNV berücksichtigen. Die Digitalisierung der Berufsausbildung soll Auszubildende entlasten und die Personalgewinnung stärken. Zugleich muss die Integration von ausländischen Fachkräften durch schnellere Anerkennungsverfahren und Unterstützungsmaßnahmen erleichtert werden.

VDV-Positionspapier „Zukunftsfähige Mobilität im ländlichen Raum“

Sechs Schritte zu einem attraktiven öffentlichen Personenverkehr
Die bestehenden Angebote werden von den Bewohnerinnen und Bewohnern ländlicher Gebiete als unzureichend wahrgenommen, was wiederum dazu führt, dass attraktive Tarife wie das Deutschland-Ticket wenig Anklang finden. Es ist auch deshalb notwendig, die Mobilitätsbedürfnisse der gesamten ländlichen Bevölkerung stärker in den Fokus der ÖPNV-Planung zu rücken. Auch nicht zu vernachlässigen sind die Touristen und deren Bedürfnisse an die Mobilität in den ländlichen Räumen.

Um eine bessere Mobilität zu gewährleisten, bedarf es einer umfassenden Angebotsinitiative im ÖPNV. Es gilt, Lösungen zu entwickeln, die sowohl den Ausbau des öffentlichen Verkehrsnetzes als auch die Interessen der Verkehrsunternehmen berücksichtigen. Die Politik ist nun gefordert, die Weichen für eine zukunftsfähige Mobilität im ländlichen Raum zu stellen. Dafür hat der VDV Ideen zu sechs Themenfeldern entwickelt.

Flexible Bedienformen für mehr Mobilität im ländlichen Raum

ÖPNV ist Daseinsvorsorge und soll die Mobilität der Menschen sichern, auch in ländlichen Regionen. Gerade in Regionen mit einem Bevölkerungsrückgang besteht aber das Problem, dass die Fahrgeldeinnahmen bei den Verkehrsunternehmen vor Ort zurückgehen, die Fixkosten für Personal und Fahrzeuge aber bleiben bzw. steigen. Gerade hier ist vor allem eine effiziente Vernetzung aller vor Ort bestehender Mobilitätsangebote notwendig, um ein möglichst umfangreiches aber auch wirtschaftlich darstellbares Nahverkehrsangebot aufrechtzuerhalten. Der Schlüssel für die Zukunft des ÖPNV liegt in der „differenzierten Bedienung“, die eine flexible Ergänzung zum Linienbus ist – folgende Beispiele zeigen, welche zentrale Bedeutung sie für den ÖPNV und die Verkehrswende auf dem Land haben.

Rufbusse: Schon vor 40 Jahren verkehrten im Rahmen eines Forschungsprojekts der „Rufbus“ in Friedrichshafen und „Retax“ (R-Bus) in Wunstorf bei Hannover – zwei rechnergestützte Systeme mit automatischer Tourenoptimierung. Der „Rufbus“ am Bodensee wurde eingestellt und das Retax-System aufgrund gestiegener Nachfrage in den regulären Linienverkehr überführt. Beide Modellvorhaben konnten wertvolle Aufbauarbeit für die ländliche Mobilität leisten und wichtige Erkenntnisse liefern: Flexible Bedienformen können nicht allein aus Fahrgeldeinnahmen kostendeckend betrieben werden und sind für bestimmte Einsatzbereiche geeignet. Daher müssen sie regelmäßig auf Abrufungsgrad, Auslastung und Zuschussbedarf überprüft werden.

Bildquelle: regiobus Potsdam-Mittelmark

PlusBus: Im Dezember 2013 hatte der MDV zeitgleich mit der Einführung des Mitteldeutschen S-Bahn-Netzes die ersten 26 PlusBus-Linien in Betrieb genommen, damit die Angebotsverbesserungen der neuen S-Bahn auch den Bewohnern in der Fläche zugutekommen. Standard sind der einheitliche Stundentakt montags bis freitags an Schul- und Ferientagen, die gute Verknüpfung mit der Bahn bei einer Übergangszeit von höchstens 15 Minuten, Taktverkehr auch am Wochenende sowie hochwertig ausgestattete Busse mit Lehnsitzen, kostenlosem WLAN und USB-Steckdosen. Das verbesserte Busangebot auf den Hauptachsen wird von den Fahrgästen sehr gut angenommen. Auf den inzwischen 36 Linien im MDV-Gebiet sind die Fahrgastzahlen seitdem um durchschnittlich 18 Prozent gestiegen. Das stärkt auch den Schienennahverkehr. Ziel ist es, den PlusBus im gesamten Bundesland zu einer stabilen Säule des ÖPNV auf dem Land auszubauen und in allen Landkreisen zu etablieren. Die Fahrzeuge betreibt heute die kreiseigene Regiobus Potsdam Mittelmark GmbH.

Kleinbuslinien: Die knapp 24.000 Einwohner zählende Gemeinde Alfter bei Bonn erstreckt sich teils über dicht besiedelte Hanglagen. Bevor der Rhein-Sieg-Kreis dort Kleinbuslinien einführte, hatte ein Anruf-Sammeltaxi im Schnitt zwei und eine Taxi-Buslinie etwa fünf Fahrgäste pro Tag. Der von der Regionalverkehr Köln betriebene "Hangbus Alfter" fährt auf zwei Linien montags bis freitags im 30-Minuten- und samstags im 60-Minuten-Takt. Sonntags besteht zwischen zwei Ortsteilen weiterhin ein Taxi-Busangebot. Mit unter der Woche durchschnittlich 450 beziehungsweise 590 Fahrgästen pro Tag waren die beiden regelmäßig fahrenden Kleinbuslinien nach nur einem halben Jahr im Vergleich zum vorherigen Angebot überaus erfolgreich. Viele Fahrgäste fahren im Kurzstreckenverkehr, wodurch sich Fahrgastspitzen entzerren und die Fahrzeuge im Linienverlauf gleichmäßig besetzt sind.

Bildquelle: Dürener Kreisbahn GmbH | Jürgen Müller

Multibus: : Ein Beispiel für eine flexible Bedienform, um die Mobilität im ländlichen Raum zu stärken, ist der Multibus, der seit 2003 im Kreis Heinsberg verkehrt – ein rein bedarfsorientiertes Angebot. Spätestens eine Stunde vor Antritt der Fahrt muss der Kunde bei der Multibus-Zentrale seinen Fahrtwunsch anmelden. Eine Software bündelt die verschiedenen Aufträge. Eingesetzt werden Kleinbusse der Westverkehr GmbH und von Taxiunternehmen. Vorab festgelegt sind nur die Halte zum Einstieg. Die Routen und die Ausstieghalte ergeben sich aus dem Bedarf der Kunden. Mit der Umstellung entstanden keine zusätzlichen Kosten. Jahr für Jahr wurde das System schrittweise erweitert. 2017 nutzten etwa 133.000 Fahrgäste das Angebot. Derzeit arbeiten Westverkehr und der Kreis Heinsberg als Aufgabenträger daran, den Multibus in der nächsten Stufe zu einem 24/7-Angebot weiterzuentwickeln – 24 Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche.