Auf der Agenda: Reaktivierung von Eisenbahnstrecken

Für eine klimafreundliche Mobiltät

Die Bundesregierung hat sich zum Ziel gesetzt, den Schienenverkehr bis 2030 massiv auszubauen: Die Verkehrsleistung im Schienenpersonenverkehr soll verdoppelt und der Anteil des Schienengüterverkehrs auf 25 Prozent erhöht werden. Auch die Bundesländer investieren verstärkt in den Ausbau des Schienenpersonennahverkehrs (SPNV). Mit dem Klimaprogramm 2030 und dem Klimaschutzgesetz will die Bundesregierung den Ausstoß von Treibhausgasen verbindlich bis 2030 um 55 Prozent verringern. Damit setzt die Bundesregierung auf klimafreundliche Mobilität. Um den Verkehr nachhaltig auf die Schiene zu verlagern, spielt die Reaktivierung stillgelegter Bahnstrecken eine entscheidende Rolle. So sollen die Ziele für eine umweltfreundliche Mobilitätswende erreicht und der Ausstoß von Treibhausgasen signifikant reduziert werden.

Martin Henke, VDV-Fachmann Eisenbahnverkehr:

„Es ist klar, mit Reaktivierungen allein werden wir die immensen ökonomischen und verkehrlichen Herausforderungen in Deutschland nicht bewältigen – und doch sprechen wir angesichts von 325 Strecken mit 5426 Kilometern Länge von Vorhaben, die den Wirtschaftsstandort gerade auf regionaler Ebene erheblich stärken können. Von diesen Strecken wurden 74 mit 949 Kilometern neu aufgenommen“

5.426 Kilometer mehr Schienennetz durch Reaktivierung von Bahnstrecken

Der VDV und die Allianz pro Schiene schlagen die Reaktivierung von 325 Bahnstrecken mit 5.426 km Länge vor. In der VDV-Broschüre werden 379 Städte und Gemeinden gelistet, die durch die vorgeschlagenen Reaktivierungen wieder Anschluss an das Bahnnetz erhalten könnten. Insgesamt 3,8 Millionen Einwohner sind betroffen.

Vorschläge für die Reaktivierung

Länderverteilung der Strecken

(Mehrfachzählung bei mehreren durchfahrenen Ländern) sowie Veränderung gegenüber Vorauflage per Saldo

  • Bremen: 1 (+/- 0)
  • Hamburg: 2 (+ 1)
  • Saarland: 9 (+1)
  • Mecklenburg-Vorpommern: 11 (+ 2)
  • Sachsen-Anhalt: 13 (+2)
  • Berlin: 14 (+ 6)
  • Thüringen: 16 (+ 3)
  • Schleswig-Holstein: 16 (+ 3)
  • Sachsen: 18 (+ 5)
  • Rheinland-Pfalz: 18 (+2)
  • Hessen: 24 (+ 6)
  • Niedersachsen: 31 (+7)
  • Brandenburg: 31 (+1)
  • Bayern: 35 (+ 8)
  • Baden-Württemberg: 45 (+ 2)
  • Nordrhein-Westfalen: 75 (+ 14)

Der Anteil der in den neuen Bundesländern vorgeschlagenen Strecken ist von 28 % auf 29 % gewachsen. Das entspricht weitgehend dem Anteil der neuen Bundesländer an der Fläche der Bundesrepublik.

Top 5 der Strecken nach Bevölkerunganzahl

1

Bottwartalbahn Heilbronn – Marbach (BW): 69.144 Einwohner

2

Brexbach- bzw. Holzbachtalbahn Engers - Siershahn - Selters – Altenkirchen (RP): 66.266 Einwohner

3

Wiehltalbahn Osberghausen – Waldbröl (NRW): 63.333 Einwohner

4

Abelitz – Aurich (NI): 60.359 Einwohner

5

Primstalbahn Dillingen – Primsweiler (SR): 54.219 Einwohner

Top 10 der Strecken nach zu erschließender Bevölkerung pro Strecken-km

1

Abzw Rheinkamp Süd – Kamp-Lintfort (NRW) 7.478

2

Tornesch – Uetersen (SH) 6.165

3

Wolfratshausen – Geretsried (BY) 5.055

4

Abelitz – Aurich (NI) 4.643

5

Iserlohn – Menden (NRW) 4.260

6

Dillingen – Primsweiler (SR) 4.171

7

Berlin-Wannsee – Stahnsdorf (B/BB) 3.810

8

Bedburg – Elsdorf West (NRW) 3.611

9

Abzw. Merzbrück – Würselen – Aachen Nord (NRW) 3.519

10

Abzw. Kellersberg – Siersdorf (NRW) 3.452

Top 10 der Mittelzentren, deren Anschluss an das Schienennetz wir empfehlen

(nach Einwohnerzahl)

1

Bergkamen (NRW), 48.725 Einwohner

2

Aurich (NI), 41.991 Einwohner

3

Würselen (NRW), 38.712 Einwohner

4

Niederkassel (NRW), 38.218 Einwohner

5

Kamp-Lintfort (NRW), 37.391 Einwohner

6

Wermelskirchen (NRW), 34.765 Einwohner

7

Hemer (NRW), 34.080 Einwohner

8

Stuhr (NI), 33.678 Einwohner

9

Geesthacht (SH), 30.551 Einwohner

10

Taunusstein (HE), 30.005 Einwohner

Grenzüberschreitende Bahnstrecken 

15 der Vorschläge betreffen grenzüberschreitende Verbindungen ins Ausland, davon vier in die Niederlande, zwei nach Belgien, vier nach Frankreich, eine in die Schweiz, eine nach Österreich, zwei nach Tschechien und eine nach Polen.

Die Reaktivierung stillgelegter Bahnstrecken lohnt sich aus vielen Gründen

1 | Ein Baustein für Verkehrsverlagerung und Klimaschutz

In den letzten Jahren wurden zahlreiche Bahnstrecken für den Schienenpersonennahverkehr (SPNV) erfolgreich reaktiviert, und die angestrebten Verlagerungseffekte meist übertroffen. Doch das Potenzial ungenutzter Schienenwege ist bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Aus diesem Grund entwickelte der VDV 2019 konkrete Vorschläge zur Reaktivierung geeigneter Strecken. Die Resonanz aus Politik und Öffentlichkeit war überwältigend, und für etwa 200 Strecken wurden Machbarkeitsstudien durchgeführt, die mehrheitlich positiv ausfielen. Viele Projekte wurden in die ÖPNV-Bedarfspläne und in das GVFG-Bundesprogramm aufgenommen, doch planungsrechtliche und finanzielle Hürden bremsen den Baufortschritt. Neben dem VDV haben auch Bundesländer, Kommunen und Güterverkehrsunternehmen weitere Strecken als Reaktivierungskandidaten benannt – eine ermutigende Entwicklung für die Mobilitätswende und nachhaltige Verkehrsplanung.

2 | Schienenanbindung als Standortvorteil für ländliche Räume

In den letzten Jahren stand neben Umweltaspekten auch die Strukturpolitik im Fokus der öffentlichen Diskussion. Während Ballungsräume zunehmend an Zuwanderung gewinnen, verzeichnen viele ländliche Regionen eine Abwanderung, oft aufgrund fehlender Infrastruktur und Dienstleistungen. Eine gute Anbindung an das Eisenbahnnetz ist ein entscheidender Standortfaktor, der nicht nur für Personen ohne Zugang zum Individualverkehr attraktiv ist, sondern auch bei der Wohnortwahl von Autofahrern und der Standortwahl von Unternehmen eine Rolle spielt. Die Bedeutung dieser Anbindung für ländliche Gebiete wird durch eine Studie des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) aus 2022 unterstrichen: Sie zeigt, dass eine reaktivierte Schienenanbindung regionale Mobilitätskonzepte stärkt und die Attraktivität strukturschwacher ländlicher Regionen erhöht – sowohl für Wohnorte als auch für Unternehmensansiedlungen. Der strukturpolitische Aspekt spielt daher eine wichtige Rolle bei der Auswahl der Strecken für mögliche Reaktivierungen.

3 | Anbindung von Mittel- und Oberzentren an den Schienenverkehr

In einem dicht besiedelten Land wie Deutschland kann nicht jede Ortschaft an das Eisenbahnnetz angeschlossen werden. Allerdings sollten Orte mit zentralen Funktionen wie Ober- und Mittelzentren bestimmte Mindeststandards bei der Verkehrsanbindung erfüllen, um ihren regionalen Dienstleistungsauftrag wahrzunehmen. Oberzentren benötigen in der Regel eine Anbindung an den Eisenbahnpersonenfernverkehr, ein Ziel, das im Koalitionsvertrag der Bundesregierung verankert ist. Während alle deutschen Oberzentren (bis auf eine Ausnahme) bereits an den Schienenpersonennahverkehr (SPNV) angeschlossen sind, ist das für viele Mittelzentren noch nicht der Fall.

In Deutschland gibt es über 900 Mittelzentren, von denen 122 – mit insgesamt rund 1,8 Millionen Einwohnern – keinen Bahnanschluss haben. Bei 72 dieser Orte erscheint eine Reaktivierung der Eisenbahnstrecken für den SPNV als sinnvoll und umsetzbar. Würden diese Vorschläge realisiert, könnten ca. 1,3 Millionen Einwohner wieder an das Schienennetz angeschlossen werden. Diese Verbesserung würde nicht nur den Mittelzentren, sondern auch den umliegenden Ortschaften entlang der reaktivierten Strecken zugutekommen. Die Schließung dieser Lücke ist für eine nachhaltige Mobilitätswende in Deutschland von hoher Dringlichkeit.

4 | Stärkung des Schienengüterverkehrs in ländlichen Regionen für nachhaltige Logistikkonzepte

Die deutsche Wirtschaft zeichnet sich durch mittelständische Betriebe und dezentrale Strukturen aus. Viele „Hidden Champions“ und bedeutende Logistikstandorte liegen abseits der Ballungszentren und haben großes Potenzial für den Schienengüterverkehr. Früher erschien es nachvollziehbar, den Gütertransport in ländlichen Regionen ausschließlich auf die Straße zu verlagern. Doch angesichts von Klimawandel, Umweltbelastungen und wachsender Nachfrage nach umweltfreundlichen Alternativen hinterfragen immer mehr Unternehmen diese Abhängigkeit vom Straßennetz. Die Reaktivierung stillgelegter Bahnstrecken kann eine tragfähige Lösung sein und fördert die nachhaltige Mobilitätswende.

Die Reaktivierungsvorschläge des VDV berücksichtigen in 29 Fällen das Potenzial für den Güterverkehr; 10 Strecken wurden speziell wegen ihres Nutzens für die Logistik in die Liste aufgenommen. Um wichtige Wirtschaftsstandorte an die Schiene anzuschließen, ist jedoch eine Anpassung des Förderrahmens erforderlich, da aktuell keine Bundesmittel für reine Güterverkehrs-Reaktivierungen vorgesehen sind. Durch die Erweiterung des SGFFG auf Schienengüterverkehrsprojekte könnte die infrastrukturelle Anbindung in ländlichen Regionen maßgeblich verbessert werden. Gleichzeitig sollten Reaktivierungen auch notwendige Infrastrukturen wie Ladeflächen und Umschlagplätze für regionale Agrar- und Forstwirtschaft umfassen, um flexibler auf neue Transportbedürfnisse einzugehen und die Energiewende zu unterstützen.

5 | Gleisanschlüsse: Stärkung der Schienenanbindung für Industrie und Logistik

Gleisanschlüsse – eigene Eisenbahninfrastrukturen von Industrie und Logistikunternehmen – eröffnen für bislang abgehängte Regionen neue Möglichkeiten zur Nutzung der Schiene. Seit August 2004 fördert der Bund den Aus- und Neubau solcher Gleisanschlüsse, mit bereits 175 erfolgreich realisierten Projekten. Dies hat zur Verlagerung von rund 118 Millionen Tonnen Verkehrsvolumen auf die Schiene geführt und etwa 7 Millionen Lkw-Fahrten eingespart. Die neue Förderrichtlinie des Bundes, in Kraft seit März 2021, bietet attraktive Fördermöglichkeiten für Ersatzinvestitionen, Zuführungs- und Industriestammgleise sowie multifunktionale Umschlagsanlagen. Diese Neuerungen haben das Interesse von Industrie und Logistik gesteigert; mehr als 60 Anträge wurden bereits gestellt.

Die Gleisanschluss-Charta, initiiert vom VDV und unterstützt von über sechzig Industrie- und Logistikverbänden, setzt sich für den Ausbau von Gleisanschlüssen, Umschlagsterminals und multimodalen Knoten ein, um die Verkehrsverlagerung und Entlastung des Straßengüterverkehrs zu fördern. Die Charta wurde 2024 aktualisiert und der Bundesregierung übergeben, um die Anbindung der „letzten Meile“ im Güterverkehr weiter voranzutreiben. Diese Initiative genießt breite Unterstützung und wird in zahlreichen Arbeitsgruppen aktiv vorangetrieben.

Herausforderungen und Chancen

Vergangene Stilllegungen von Bahnstrecken und deren Auswirkungen

Die Entscheidungen zur Stilllegung von Bahnstrecken in Deutschland waren in der Vergangenheit oft umstritten, insbesondere vor der Bahnreform. Diese Maßnahmen zielten häufig darauf ab, das hohe Defizit des Schienenpersonennahverkehrs (SPNV) durch die Schließung unrentabler Strecken zu senken, während der als Ersatz angebotene Busverkehr zwar weniger Fahrgäste, aber höhere Gewinne erzielte, da keine Infrastrukturkosten anfielen. Die 1976 von der Deutschen Bundesbahn vorgestellte „Betriebswirtschaftlich optimale Netz“-Strategie schloss fast die Hälfte des damaligen Netzes aus dem erhaltenswerten Bestand aus, obwohl die Berechnungsgrundlagen oft unzureichend waren.

Auch nach der Bahnreform kam es zu weiteren Streckenstilllegungen, insbesondere in den neuen Bundesländern, wo der zunehmende Ausbau des Straßennetzes und die steigende Pkw-Dichte die Nachfrage nach SPNV drastisch reduzierten. Hinzu kam eine Reduzierung der Güterverkehrsstellen, was zur Stilllegung vieler Strecken führte, die bislang durch den Güterverkehr erhalten geblieben waren. Erfreulicherweise hat sich die Stilllegungsrate in den letzten Jahren erheblich verringert. Zwischen 2018 und 2020 wurden nur wenige hundert Meter stillgelegt, und seit 2021 verzeichnet das Eisenbahn-Bundesamt keine neuen Stilllegungen mehr.

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Reaktivierungspotenzial stillgelegter Bahnstrecken

Die Stilllegung einer Bahnstrecke gemäß § 11 des Allgemeinen Eisenbahngesetzes bedeutet nicht zwangsläufig, dass sie nicht mehr reaktiviert werden kann. In vielen Fällen wurden Trassensicherungsverträge abgeschlossen, die den Streckenerhalt für eine mögliche Reaktivierung gewährleisten. Einige nichtbundeseigene Eisenbahnen, Museumseisenbahnen und Touristikanbieter haben sogar stillgelegte Infrastrukturen übernommen. Auch wenn die Nutzung als Bahntrasse eingestellt wurde, blieb die Infrastruktur häufig erhalten oder wurde für alternative Verwendungen, wie Rad- oder Wanderwege, umgestaltet. Eine Umnutzung, insbesondere als Radweg, wird oft als Trassensicherung für zukünftige Bahnreaktivierungen betrachtet und kann die Kosten für eine Wiederherstellung reduzieren. Grundsätzlich bleibt ein Großteil des stillgelegten Netzes weiterhin als Verkehrstrasse verfügbar.

Rad- und Feldwege sind dabei die häufigsten Nachnutzungen. Bei der motorisierten Landwirtschaft, die diese Wege nutzt, gibt es im allgemeinen Wegenetz oft alternative Routen, wodurch Nutzungskonflikte und Ersatzlösungen minimiert werden können.

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Herausforderungen und Chancen bei der Reaktivierung von entwidmeten Bahnstrecken

Entwidmete Bahnstrecken, die „von Betriebszwecken freigestellt“ wurden, sind als normale Grundstücke nutzbar und können überbaut werden. Eine Reaktivierung solcher Strecken wird daher als Neubau betrachtet und erfordert ein Planfeststellungsverfahren. Oft scheitern diese Projekte an hohen Kosten für die Entfernung von Überbauungen und Konflikten mit Grundstückserwerbern. Mit der am 29.12.2023 in Kraft getretenen Gesetzesnovelle hat der Gesetzgeber auf diese Problematik reagiert: Ein Bahnbetriebszweck gilt nun als „überragendes öffentliches Interesse.“ Dies erschwert zukünftige Entwidmungen erheblich und stärkt das Interesse an der Erhaltung von Bahntrassen. Entwidmungen sind nur noch in Ausnahmefällen möglich, wobei zahlreiche Träger öffentlicher Belange, darunter Eisenbahnunternehmen und Planungsbehörden, in die Entscheidung einbezogen werden müssen.

Bereits erfolgte Freistellungen bleiben jedoch rechtswirksam, was die Reaktivierung von betroffenen Strecken vor Herausforderungen stellt. Einige Bundesländer zögern, entwidmete Strecken in ihre Reaktivierungspläne aufzunehmen, obwohl diese oft nur geringfügig überbaut sind und für eine spätere Schienennutzung freigehalten wurden. Reaktivierungen sind in der Regel weniger eingreifend als vollständige Neubauten und sollten daher bevorzugt werden.

Radwege und Bahnreaktivierung: Eine Herausforderung für nachhaltige Verkehrsplanung

Die Nutzung stillgelegter Bahntrassen als Radwege ist weit verbreitet und wird von vielen Nutzern geschätzt, da diese Wege geringe Steigungen bieten und vom motorisierten Verkehr getrennt sind – ideal für touristische sowie Alltagsfahrten. In einigen Fällen führte der Wunsch nach Radwegen sogar zur Stilllegung oder Entwidmung von Bahnstrecken. Wenn eine Reaktivierung als Bahnstrecke in Betracht gezogen wird, sollte die Entscheidung auf einer Analyse der potenziellen Verkehrsleistung basieren, da Schienenverbindungen in der Regel eine höhere Kapazität aufweisen.

Eine zukunftsfähige Planung berücksichtigt jedoch beides: Bahn- und Radverkehr. Eine Reaktivierung stillgelegter Strecken kann durch eine innovative Querschnittsgestaltung ergänzt werden, die auch den Ansprüchen von Radfahrern und Fußgängern gerecht wird. Der VDV hat gemeinsam mit der TransportTechnologie-Consult Karlsruhe GmbH (TTK) eine Studie entwickelt, die zeigt, wie Bahn-, Rad- und Fußverkehr auf derselben Infrastruktur koexistieren und sich gegenseitig ergänzen können. Die Studie bietet Entscheidern Argumentationshilfen, um kombinierte Verkehrsangebote für umweltfreundliche Mobilität zu fördern.

Eisenbahnreaktivierung und Busverkehr: Ein integrierter Ansatz für den ÖPNV

Die Reaktivierung von Bahnstrecken ergänzt den Busverkehr und stärkt den gesamten öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV). Eine reaktivierte Eisenbahnstrecke kann eine Region besser erschließen und den Busverkehr sinnvoll ergänzen, indem die Buslinien neu geordnet und auf die Bahn abgestimmt werden. In manchen Fällen ist jedoch ein optimierter Busverkehr die bessere Lösung, etwa bei Strecken, die weiter von Siedlungen entfernt verlaufen, oder bei einem integrierten Busnetz, das eine bessere Flächenerschließung bietet.

Ein effektiver ÖPNV benötigt eine Kombination aus Bahn, Bus und flexiblen Bedienungsformen, die optimal aufeinander abgestimmt sind. Die Reaktivierung von Bahnstrecken sollte nicht dazu führen, dass Busverbindungen entfallen; vielmehr sollten die eingesetzten Mittel den Zu- und Abbringerverkehr mit dem Bus stärken. So wird der Busverkehr durch die Reaktivierung nicht geschmälert, sondern verändert und ausgebaut, um die Verlagerungseffekte zu maximieren. Besonders in Gebieten ohne reaktivierbare Bahnstrecken ist der Ausbau des Busverkehrs entscheidend, da leistungsfähige Buslinien oft das einzige Mittel sind, eine Verkehrsverlagerung auf den ÖPNV schnell zu bewirken.

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Neue Chancen durch verbesserte Finanzierungs- und Förderinstrumente

Zur Reaktivierung von Bahnstrecken standen bereits Förderinstrumente zur Verfügung, wie die ÖPNV-Gesetze der Länder und Regionalisierungsmittel. Nach der Föderalismusreform erhalten die Länder seit 2020 mehr Mittel aus der Umsatzsteuer, um die Entflechtungsmittel für Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur zu ersetzen. Viele Bundesländer haben die gesetzlichen Voraussetzungen geschaffen, um diese Mittel auch für die Reaktivierung von Bahnstrecken einzusetzen. Die Regionalisierungsmittel können ebenfalls für Investitionen in die Infrastruktur des Schienenpersonennahverkehrs (SPNV) genutzt werden, auch wenn ihre begrenzte Höhe die ÖPNV-Finanzierung weiterhin herausfordert.

Die Erweiterung des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes (GVFG) 2020 hat zusätzliche Fördermöglichkeiten geschaffen. Das GVFG fördert nun explizit die Reaktivierung und Elektrifizierung von Bahnstrecken sowie die Infrastruktur für alternative Antriebe. Der Schwerpunkt wurde von Straßenbau auf Schienenausbau verlagert, wobei das Finanzvolumen erheblich erhöht wurde: Es stieg von 665 Millionen Euro im Jahr 2020 auf 2 Milliarden Euro im Jahr 2025 und wird ab 2026 jährlich dynamisiert. Die verbesserten Förderbedingungen haben zu einer erhöhten Nachfrage und Projektanmeldungen geführt, was zeigt, dass die bereitgestellten Mittel effektiv genutzt werden.

Standardisierte Bewertung (seit 1. Juli 2022)

In der Vergangenheit war neben fehlenden Mitteln der Nachweis der Wirtschaftlichkeit eine häufig nicht zu überwindende Hürde für Reaktivierungsprojekte. Diesem Mangel hat der Bund durch Inkraftsetzung der neuen Verfahrensanleitung zur Ermittlung der Wirtschaftlichkeit im Rahmen der sogenannten Standardisierten Bewertung zum 1. Juli 2022 weitgehend abgeholfen. Die Einführung neuer Nutzenkomponenten wie der Lebenszyklusemissionen für Infrastruktur und Fahrzeuge, des impliziten Fahrgastnutzens sowie der Anrechnung des Nutzens gesellschaftlich auferlegter Investitionen in Brandschutz und Barrierefreiheit sowie weiterer fakultativer Nutzendimensionen des Klimaschutzes und der Wirkungen eines Vorhabens auf die Emissionen von Treibhausgasen machen es Reaktivierungsprojekten wesentlich leichter, die Wirtschaftlichkeitshürde zu überspringen.

Förderrichtlinie des Bundes für die Gleisanschlussförderung (seit 1. März 2021)

Die neue Förderrichtlinie des Bundes für die Gleisanschlussförderung, die am 1. März 2021 in Kraft getreten ist, macht die Schaffung neuer und Reaktivierung bestehender Gleisanschlüsse attraktiver als bisher. Gefördert werden nun nicht mehr nur Aus- und Neubau, sondern auch Ersatzinvestitionen an Gleisanschlüssen sowie Investitionen an Zuführungs- und Industriestammgleisen, die bisher ausgenommen waren. Förderfähig sind nun auch multifunktionale Anlagen für den Umschlag Schiene/Straße an den Anschlüssen. Zudem wurden die Fördersätze und die Planungskostenpauschale erheblich erhöht. Dies hat zu einem erheblich gesteigerten Interesse aus Industrie und Logistik geführt, das auch auf das regionale Netz ausstrahlt.

Novellierung des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes (GVFG)

Der Bund hat bei der Novellierung des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes (GVFG) in der letzten Legislaturperiode einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, den Reaktivierungsprojekten neuen Schwung zu verleihen. Die neunzigprozentige Förderung derartiger Projekte aus Bundesmitteln und der wesentlich größere finanzielle Rahmen des GVFG-Bundesprogramms erleichtert Ländern und Kommunen die Kofinanzierung und hat die Bereitschaft, sich bei solchen Projekten zu engagieren, erheblich verstärkt. Der Bund hat darüber hinaus nützliche Verfahrensanweisungen zur Interpretation des GVFG erlassen und stellt im Rahmen des Forschungsprojektes „Begleitende Maßnahmen für die Reaktivierung von Schienenstrecken“ weitere Handreichungen für Antragsteller zur Verfügung.

Ergebnisse von Machbarkeitsstudien zu mehr als 75 Prozent positiv  

Immer mehr Regionen in Deutschland haben Interesse daran, stillgelegte Schienenstrecken zu reaktivieren. Das zeigt die zunehmende Zahl an Studien, die in allen Teilen Deutschlands in Auftrag gegeben werden, um eine Reaktivierung zu prüfen. Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) und die Allianz pro Schiene haben diese sogenannten Machbarkeitsstudien ausgewertet: Ganz überwiegend kommen sie zu einem positiven Ergebnis. Bei der Zahl der beauftragten Studien gibt es zwar große Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern. Insgesamt zeigt das stark gewachsene Interesse jedoch, dass die Reaktivierung von Schienenstrecken großes Potenzial hat, das ÖPNV-Angebot auch in der Fläche zu verbessern.

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Zwei Jahre nach der letzten Ausgabe erscheint mit dieser Broschüre die vierte Auflage der Reaktivierungsvorschläge des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen. Die Öffentlichkeit und die Politik hatten seit der letzten Auflage unsere Reaktivierungsinitiative positiv aufgenommen und bei vielen der vorgeschlagenen Reaktivierungsprojekte waren Schritte zu ihrer Realisierung eingeleitet worden. Der Zug in Richtung Reaktivierung hat inzwischen weiter Fahrt aufgenommen. Dennoch ist der Reaktivierungsbedarf in Deutschland immens: In dieser neuen Auflage der Broschüre schlägt der VDV die Reaktivierung von 325 Bahnstrecken mit 5426 Kilometern Länge vor.

Eine weitere Herausforderung für die Reaktivierung von Eisenbahnstrecken ist die Konkurrenz um die Nutzung der Trassen mit dem Radverkehr als weiterem klimafreundlichem Verkehrsträger. Vielfach wurden nach kompletter Stilllegung der Strecken die Trassen für die Anlage attraktiver Rad- und Wanderwege genutzt – größtenteils im Übrigen zur Sicherung der Trasse für einen späteren Bahnverkehr. Dies ist nur heute nicht mehr gänzlich allen in Erinnerung geblieben. Um aber dennoch Konflikte zu vermeiden sollen Wege zur Koexistenz beider Nutzungsarten aufgezeigt werden. Der VDV hat zu diesem Zweck eine Studie unter dem Titel „Reaktivierung von Eisenbahnstrecken - Hinweise zur Kombination von Schienenverkehr mit Rad- und Fußverkehr“ in Auftrag gegeben, die qualifizierte Vorschläge zur Kombination beider Nutzungen durch eine systematische Aufarbeitung von Regelquerschnitten sowohl nach EBO als auch nach BOStrab macht.

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